Fallbeispiele
1. Kind: Im Rahmen der um ein Jahr vorgezogenen Schulanmeldung treten auf der entsprechenden Informationsveranstaltung die Eltern eines damals 5-jährigen Jungen mit der Bitte um eine Sprachberatung an mich heran. Nach der Untersuchung stelle ich eine leichte Sprachentwicklungsverzögerung mit multipler Dyslalie, verbunden mit einem leichtem Dysgrammatismus, auditive und visuelle Wahrnehmungsauffälligkeiten mit Hinweisen auf eine Lese-Rechtschreib-Problematik, massive Konzentrationsschwäche und Aufmerksamkeitsdefizite mit Verdacht auf ADS und leichte, motorische Koordinationsauffälligkeiten fest. Im Elterngespräch (Anamnesegespräch) stellt sich heraus, dass ein Elternteil unter Legasthenie leidet. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Junge bereits in ergotherapeutischer Behandlung. Er erhält erst ein Jahr vor Schulbeginn Logopädie. In Absprache mit dem zuständigen Kinderarzt wird der Junge kinderneurologisch untersucht. Das Ergebnis bestätigt den Verdacht auf ADHS. Zunächst besucht er die Vorklasse und, unterrichtsbegleitend, den Unterricht in der ambulanten Sprachheilklasse. Die Eltern nehmen die regelmäßig angebotene Sprachberatung wahr und setzen alle Vorschläge auch zu Hause um. Zu Beginn der 2. Klasse ist der Junge lautsprachlich unauffällig, zeigt aber immer noch Schwierigkeiten beim Erlesen der Buchstaben. Er verwechselt u.a. noch „b“ und „d“. Trotz seiner Schwierigkeiten arbeitet er im Unterricht gerne und motiviert mit. Zu Beginn der 3. Klasse ist seine Lese-Rechtschreibschwäche weitgehend ausgeglichen. Die Mutter meldet ihr zweites Kind ebenfalls zur Sprachberatung an. Es benötigt nur einige Monate Sprachheilunterricht.
2. Kind: Während einer Reihenuntersuchung der neuen Erstklässler fällt ein Mädchen mit einer extrem hohen Stimme, einem starken „Sigmatismus interdentalis“ und diskontinuierlicher Redeunflüssigkeit auf. Außerdem zeigt das Kind in seinem Bewegungsbild eine leichte Hemiplegie rechtsseitig. Aufgrund dessen wirkt das Mädchen fein- und großmotorisch ungeschickt und weist in der Graphomotorik eine geringe Kraftdosierung auf. Treppabwärts läuft sie noch unsicher im Nachstellschritt. Große Probleme zeigt sich auch in ihrer gesamten Körperkoordination und im Halten ihres Gleichgewichts. In der Kurzanamnese berichtet die Mutter, dass diese Auffälligkeiten bisher keinem aufgefallen seien. Das Mädchen erhält nach Schulbeginn unterrichtsbegleitend ambulanten Sprachheilunterricht in Kooperation mit der Klassenlehrerin.
In Absprache mit dem zuständigen Kinderarzt unterzieht sich das Kind einer eingehenden neurologisch-orthopädischen Untersuchung.
Die neurologisch-orthopädische Untersuchung in einem kinderneurologischen Zentrum ergibt, dass das Mädchen eine leichte, hirnorganisch bedingte Hemiplegie (Halbseitenlähmung) rechtsseitig hat. Ihr werden zum ersten Mal krankengymnastische und ergotherapeutische Behandlungen verschrieben. Später erhält das Mädchen statt Physiotherapie Hippotherapie. Die Eltern kommen kontinuierlich zur Sprachberatung und setzen alle Empfehlungen um.
Nach einigen Monaten wirkt das Mädchen in ihrem ganzen Auftreten sicherer. Sie zeigt kaum noch sprachliche Auffälligkeiten. Die anfänglichen Unsicherheiten im Lese-Rechtschreiberwerb sind überwunden.
3. Kind: Bei der um ein Jahr vorgezogenen Schulanmeldung fällt ein 5-jähriger Junge mit Migrationshintergrund und starker Sprachentwicklungsverzögerung mit multipler Dyslalie und Dysgrammatismus auf; ein durchaus kommunikativer Junge, den nur kaum einer verstehen kann. Der Junge erhielt zwar Logopädie, aber die Mutter möchte dort nicht mehr hingehen, weil ihr gesagt wird, sie solle mit ihrem Kind nicht in ihrer Muttersprache sprechen. Dennoch sieht die Mutter ein, dass ihr Kind dringend der Logopädie bedarf. Sie erhält eine Broschüre des „Hochheimer Netzwerkes Kind & Sprache“ mit wohnortnahen Anlaufstellen. Außerdem erhält sie Tipps für den häuslichen Umgang und zur Ernährung ihres Kindes. Ein Jahr später, zum Schuljahresbeginn, erfahre ich in dem Anamnesegespräch (Gespräch über die Vorgeschichte), dass die Eltern alle unsere gemeinsam besprochenen Vorschläge konsequent umgesetzt haben. Sie fanden aufgrund der Broschüre des Netzwerkes eine geeignete logopädische Praxis. In der Eingangsdiagnose war der Erstklässler lautsprachlich weitgehend unauffällig und wies lediglich noch eine leichte, partielle Dyslalie auf. Im ambulanten Sprachheilunterricht konnten dann, nach Absprache mit der logopädischen Einrichtung, grammatikalische Strukturen geübt werden. Der Junge lernte im Verlauf der ersten Klasse ohne größere Probleme Lesen, Schreiben und Rechnen.